Anschreiben, Motivationsschreiben, Zeugnisse? Immer mehr (Groß-) Unternehmen wollen das gar nicht sehen. Da es ja sowieso kein Schwein liest, die Postfächer verstopfen und die Personalabteilung hat eh´ was Besseres zu tun. Sich zum Beispiel um Digitalisierung kümmern. ATS (Applicant Tracking Systems) Online-Tools sortieren Bewerber automatisch aus. Wie bequem! Dann noch schnell ein Gespräch („Könntest Du heute mal die Praktikantin zum Auswahlverfahren schicken? Hab´so viel zu tun! Danke!!!“). Und – schwupps! Ist das neue Talent eingestellt. Dank´der KPI´s „Steigerung der Bewerbungszahlen“ bekommt man auch immer mehr Bewerbungen, da auf der anderen, der Bewerberseite auch kein Schwein mehr die Stellenanzeige liest und Lebensläufe wie Flugblätter verteilen kann.

Ich wünsche mir eine Zeit, in der der Mensch gesehen wird

Wie schön ist doch die HR Welt geworden. Als Ur-Gestein der Personalentwicklung habe ich noch Bewerbungen GELESEN! Profile erstellt. Zusagen/Absagen persönlich diktiert. Die Unterlagen wurden PER POST zurückgeschickt mit individuell formulierten Briefen. Nein, diese Zeit wünsche ich nicht zurück. Ich wünsche mir eine Zeit, in der der Mensch gesehen wird – so wie er ist, mit seiner Persönlichkeit, seiner Wirkung und auch seinen Erfahrungen, und zwar in Bezug auf die zu besetzende Stelle, nicht in Bezug auf komplette Durchleuchtung. Ich wünsche mir digitale Hilfestellung, die es zulässt, dass ich individuell auf den Menschen eingehen kann, der mit mir auf Augenhöhe über seine Zukunft spricht und ich mit ihm über meine Erwartungen (= Bewerbungsgespräch).

Diskussion Motivationsschreiben ja-nein-hin-und-her

Aber stattdessen brandet immer wieder die Diskussion auf, ob nun Motivationsschreiben gefordert werden sollen, ob Zeugnisse dabei sein müssen. „Sind doch ohnehin alle getürkt“. (Ach, ja? Und Lebensläufe sind nicht anfällig für Verschönerungen??).

Es ist doch Banane, ob ja oder nein. Entschieden werden sollte, ob Eignung vor der Einstellung getestet werden sollte oder nicht. Ich kann mich ja nicht beschweren, wenn ich kein Anschreiben möchte und dann erstaunt feststelle, dass der großartige Kandidat gar keinen vollständigen Satz schreiben kann. Denn er/sie hat einen Lebenslauf auf diese Stellenanzeige eingereicht, der so aussah:

Peter Wichtig;Führung;Empowerment;Eigenverantwortung;New Way of Learning;Hands-on;Workforce-Transformation;Talent Management;Performance Management;Agiles Mindset;Teamspirit;Supply Chain;Upskilling;Management Diagnostik;Know-How#Digitalisierung;Leadership Transformation.

ATS war begeistert!! So toll auf die Stellenanzeige abgestimmt!

Oder die Bewerbungen sehen bald so aus (Warum auch nicht? Reicht doch!?)

Bewerbung

QR Code Profil Silke Wöhrmann

Wehe dem Bewerber, der an das Gute glaubt

Der Rest, also die Bewerber, die sich Mühe gegeben, ein Anschreiben formuliert, SEO ignoriert und bei der Wahrheit geblieben sind: Tschüss, Schmiet weg dat Teil in den Orkus der digitalen Papierkörbe.

 

Was auf der Strecke blieb: Der Mensch.

Seine Persönlichkeit. Seine Fähigkeit. Dass >>Supply Chain<< im Lebenslauf steht, kann ja auch heißen, dass er/sie* einmal ein Buch mit dem Titel im Regal hat stehen sehen.

Widerspruch: Talentmangel und Prozessoptimierung?

Hier wird aus meiner Sicht der Widerspruch zwischen Optimierung der Bewerberprozesse und Talentmanagement offensichtlich.

Um Talente zu finden, muss man sich reinhängen. Denn Seltenes zu finden bedarf immer etwas mehr Aufwand. Zum Beispiel mit Menschen sprechen anstatt sie mit Google-Anzeigen auf Social Media zu nerven. Den Ausdruck in den Augen sehen: ist da Begeisterung für das Thema? Oder bekomme ich im Bewerbungsgespräch nur auswendig gelernte Sätze zu hören?

Man muss persönlich zu den Plätzen hingehen, in die Schulen, in die Unis und Fachhochschulen. Aber dafür muss man wirklich Talente wollen und keine Studierenden, die nur gute Noten haben, die ohnehin auch nicht mehr aussagefähig sind.

Man muss auch Querdenker wollen, denn intelligente Menschen sind nun mal nicht „Mainstream“, sie hinterfragen, sind auch mal kritisch, mal unbequem. Und Intelligenz ist immer noch ein sehr guter Prädiktor für Berufserfolg (Kaiser, Kramer, Hunter/Schmidt u.a.)

 

Wissenschaft ist immer noch ein guter Ratgeber

Wissenschaftlich gut untersucht und bestätigt ist der „Trimodale Ansatz“ von Schuler. Er beschreibt die Bedeutung einer sinnvollen Kombination zwischen Konstruktansatz (Eigenschaften werden über psychologische Tests gemessen) Simulationsansatz (arbeitsplatzrelevantes Verhalten wird gemessen z.B. durch situative Fragen oder AC´s) und dem biographischen Ansatz. So weiß man, dass vergangenes Verhalten oft einen recht guten Prädiktor (= Vorhersagekraft) für zukünftiges Verhalten darstellt.

Die Erfassung der Biographie besteht dabei nicht aus dem Scannen von reinen, mit Datum beschrifteten Lebensläufen, sondern orientiert sich daran, mit welcher Zielsetzung, mit welchem Lösungsansatz, warum und mit welchem Ergebnis in welcher Qualität und welchen kritischen Situationen die beruflichen Stationen eines Lebens gemeistert wurden.

Kann das ein Lebenslauf aussagen? Oder sind Zeugnisse nicht doch ganz hilfreich?

 

„Zeugnisse kann doch heutzutage jeder selbst schreiben!“

„Zeugnisse haben keine Aussagekraft mehr, das sind doch eh´ alles Gefälligkeiten!“ Aussagen von Personalern. Aber, Stopp! – werden Zeugnisse nicht von Personalern geschrieben? Oder werden Mitarbeiter nicht von ihnen aufgefordert, mal schnell selbst eins zu schreiben, weil man ja – wie immer – keine Zeit hat? (Stimmt, man muss sich mit den ganzen Kündigungen herum schlagen weil vorher nicht ordentlich geguckt wurde). Oder nutzen nicht Personaler Zeugnisgeneratoren, bei denen alles, aber kein individuelles Zeugnis bei ´rauskommt?

Also wird sich beschwert über Entwicklungen, die man selbst gerufen hat. Und die nächste Entwicklungsstufe macht es auch nicht besser, nämlich die, dass man gar nix mehr liest sondern KI machen lässt. Irgendwann wird der neue Mitarbeiter mit digitalen Blumen begrüßt und ein süsser KI-Roboter arbeitet ihn ein. Klar, denn das Personalmanagement hat sich selbst abgeschafft, weil es seine eigentliche Aufgabe (Ressourcen gewinnen, halten, fördern) abgegeben hat.

 

Personalized Recruiting – ein neuer Trend?

Vielleicht haben Sie bei dem zweiten Absatz mitleidig gelächelt. Aber ich bin davon überzeugt, dass in spätestens 10 Jahren ein gaaanz neuer Trend aufkommt: „Personalized Recruiting“ oder „Relationship Recruiting“ wird er heißen oder ähnlich. Da werden Bewerber dann zu Hause besucht, so ganz persönlich. Oder Anschreiben liebevoll mit Hand geschrieben. Was auch immer dann wieder auftaucht. Denn Talente, Menschen entdeckt man immer noch mit Herz. Und Ihre Fähigkeiten fördert man mit Verstand. Und der sinnvollste KPI ist immer noch „X % mehr Bewerbungen geeigneter Bewerber gewinnen.“ Und die Eignung misst man immer noch über Validität.

 

*Zur besseren Lesbarkeit wird ab jetzt die männliche Form verwendet

Silke Wöhrmann, Dipl.-Kfm. Ist Hochschuldozentin für Personalpsychologie / Eignungsdiagnostik und Inhaberin der APT Human Management

Ein Gedanke zu “Schmiet weg den Schiet! Wie viele Unternehmen mit Bewerbungen umgehen – und Talente verlieren

Hinterlasse einen Kommentar