Folgen einer Illusion auf (personal-)wirtschaftliche Beziehungen und Entwicklungen
Es gibt Menschen, denen man im Geschäftsleben begegnet, die man gar nicht kennt, aber die dennoch eine Ausstrahlung haben, die einen so komisch fühlen lassen. Die gesamte Körperhaltung, der Blick, alles strahlt an ihnen ein “Von-sich-überzeugt-sein” aus. Zweifel an den Worten dieser Menschen kommen gar nicht auf, sie füllen den Raum, dulden keinen Widerspruch.
Was diese Menschen ausstrahlen ist Überlegenheit, und zwar in jeder Situation. Für jedes Argument haben sie eine Technik entwickelt, die nichts anderes als ihre Meinung gelten lässt. Bei Kritik finden sie – ungeachtet dessen, ob anschließend noch irgendjemand Kontakt wünscht – schnell harsche Worte, die jedes Fünkchen Bedenken gnadenlos abschmettern „Wenn Sie nicht der Meinung sind, sollten Sie sich mal ganz schnell hintenan stellen, da stehen schon andere, die sich nicht informiert haben.“ Die Relation zwischen Ereignis und Reaktion steht nie in einem angemessenen Verhältnis. Klar, diese Technik vermeidet, dass die Überlegenheit dieser Person/en in Frage gestellt wird. Denn was bleibt, wenn Widerworte nicht sofort abgewürgt werden, wenn der „Kritiker“ nicht sofort als dumm dargestellt wird, wenn der „Gegner“ nicht der Lächerlichkeit preisgegeben wird? Wahrscheinlich nicht viel. 1. Der Ü-Effekt: Ansteckende Volkskrankheit mit ernsthaften FolgenWenn nun mal der eine oder andere so einen Überlegenheits-Kick bekommt und sich anschließend eher dafür schämt, ist das wohl „normal“. Mittlerweile scheint sich das Streben nach Überlegenheit aber gefühlt zu einer ansteckenden Volkskrankheit mit ernsten wirtschaftlichen Folgen zu entwickeln und nicht nur das: Sie wird zudem gefördert, denn man kann damit Geld verdienen, die Produktivität erhöhen und vieles mehr. Und das hat wiederum ernstzunehmende Folgen für das soziale Zusammenleben insgesamt, aber insbesondere auch in und für Unternehmen, denn der Ü-Effekt reduziert Effektivität und Effizienz. Er vergiftet alles, was auch nur den Hauch von Team- und Zusammenarbeit ahnen lässt. Und ist damit ein Thema für Unternehmen und Personalabteilungen gleichermaßen. 1.1. IntroEs geht hier nicht um “Besser zu sein” oder um “Geld haben”, “Macht haben”, um hochnäsig sein, geltungsbedürftig, egozentrisch, arrogant, gierig, geizig, abfällig, um Missbrauch, Verachtung, Abwertung, Respektlosigkeit, Dominanz, Übergriff, Besserwissertum und auch Bewunderung – das sind alles Dinge, die mit Überlegenheit in Verbindung gebracht werden, aber letztendlich „nur“ Folgen oder Ziele dieser Illusion sind oder andere Gründe haben. Es geht in diesem Artikel um die schädigende Effekte, den das Streben nach diesem Gefühl nach sich ziehen kann und damit massive Auswirkungen auf das Zusammenleben und –arbeiten in zwischenmenschlichen beruflichen Beziehungen. Dabei ist es unerheblich, ob es sich um Einzelpersonen oder um Gruppen handelt oder um ganze Unternehmen handelt, die sich dieser Illusion verschieben haben. Wenn Schaden durch das Ausleben einer gefühlten Überlegenheit angerichtet wird, funktioniert dies meist immer über das bewusste Auslösen eines anderen Gefühls: der Unterlegenheit. Menschen, die sich unterlegen fühlen, nehmen dies meist nicht einfach so hin. Sie entwickeln meist wiederum Verhaltensweisen wie Angriff, Aggression, Rückzug – oder den Wunsch, auch überlegen zu sein. Das dies in einer zerstörerischen Verhaltensspirale aber niemals in Produktivität und Motivation endet, ist eigentlich doch jedem klar. ![]() 1.2. Wirtschaftliche und soziale FolgenNoch nie wurde das Streben nach Überlegenheit so perfekt wirtschaftlich genutzt. Denn um dieses Gefühl zu bekommen, kann man sich Überlegenheit (grooooßes Auto, grooooßes Haus, groooße Uhr) erkaufen oder, wenn man es sich nicht leisten können, dann wird jeder noch so kleine Anlass genommen um – gewollt oder nicht – Überlegenheit zu demonstrieren. Der Kaffeebecher wird stehen gelassen, die anderen, die Unterlegenen, die nach einem kommen und einfach Pech haben weil ihre Pause später liegt, waschen ihn ja ab. Herrn Ichmachdas, dem gutmütigen Volltrottel, wird noch ein Aktenstapel digital in die Cloud gestellt, man hat ja wichtigere Dinge zu tun. Der Praktikantin legt man anspruchsvolle Kopiertätigkeiten hin, denn man selbst wird dafür ja zu hoch bezahlt und ist zu schade dafür. Und wenn eine Gruppe Arbeitsunwilliger sich jemanden aussucht, der durch Engagement höhere Maßstäbe zu setzen vermag, hat dieser meistens kein schönes Leben mehr, denn in den meisten Fällen sind die Mitglieder der Mobbing-Gruppe schon länger betriebsblind als der zukünftig Langzeitkranke – und damit berechtigt, auch mal gemeine Sachen zu tun und zu sagen. Glauben sie. 1.2.1. PersonalauswahlVorneweg: Es gibt genügend Beispiele von Menschen, die durchaus jeden Grund dafür hätten, sich überlegen zu fühlen, aber es nicht tun, Erstens weil sie genügend Selbstwertgefühl haben und Zweitens weil sie wissen: Es ist ja nur dumm zu glauben, dass man immer zu jeder Zeit aus jeder Situation als „Sieger“ als „Winner“ herausgehen kann. Aber genau das wird aus Sicht der Überlegenen vermeintlich oder tatsächlich erwartet, verlangt, sogar: gefördert. Assessment Center und Auswahlverfahren sind ein gutes Beispiel: Der- oder diejenige, die die Illusion der Überlegenheit am besten übertragen können, werden ausgewählt. Denn noch immer stehen die Kompetenzen der 70er Jahre in den Anforderungsprofilen: Überzeugungs- und Durchsetzungsfähigkeit, Kommunikationsstärke, Belastbarkeit. Aggressionspotential, Angriffslust wird mit einem Job belohnt. Wen wundert es, dass die Firmen mittlerweile voll sind mit Überlegenen, aber ganz gewiss nicht mir Teamplayern. In einem Team muss man auch mal zurückstecken, auf jemanden warten, sich umschauen um zu erfahren, wo die anderen gerade stehen. Wer das in einem AC macht hat schlechte Karten. 2. Folgen des Ü-PrinzipsDieses Ü-Prinzip hat seine Anhänger und viele habe über die Verfahren hinaus das Denken zu eigen gemacht: Bloß niemals ein Looser sein. Bloß niemals zurückstecken. Bloß niemals zugeben, dass man etwas nicht weiß oder nicht kann. Bloß niemals jemanden den Vortritt lassen. Die Folge: Überheblichkeit. Überreaktion, Überlastung, Überschätzung. Überanstrengung. Überbeanspruchung der eigenen und fremden Ressourcen gegenüber. Über andere reden, sich über andere aufregen. Überbezahlung bei denjenigen, die für das Gefühl der Überlegenheit jeden Preis akzeptieren. Überbewertung an der Börse wie auch von künstlichen Skills wie „Agilität“, Fluidität, Hybridität. Überempfindlichkeit in jeder Lebenssituation, die das eigene Überlegenheitsgefühl auch nur im Ansatz in Frage stellt. 2.1. ÜbertreibungÜbertriebene Vorsicht und Ängstlichkeit auf der einen, übertriebene Adrenalinsuche auf der anderen Seite. Übertriebene Anforderungen, übertriebene Ablehnung. Jedes Ding bekommt irgendwie eine völlig übertriebene Bedeutung: Wie und wo und wer die Büropflanzen gießt wird länger diskutiert als die zukünftige Übernahme des langjährigen Konkurrenten. Ebenso, ob das Kantinenbrot glutenfrei und weizenfrei und laktosefrei und überhaupt brotfrei ist. Zwischenmenschliche Schuldsuche (letztendlich ein Nebenprodukt des Überlegenheitsstrebens) verursacht vermutlich höhere wirtschaftliche Verluste als so manch andere Fehlinvestition. Lösungssuche dagegen bedeutet: Zukunftsorientiert gemeinsam handeln ohne Schuldzuweisung – nicht gerade ein Verhaltensfavorit derjenigen, die als „Winner“ aus etwas herausgehen möchten. Zu sachlich, zu ruhig, gemeinsames Sprechen über ein Thema und gemeinsam daraus etwas entwickeln – damit kann man nicht für sich punkten, es sei denn, man erzählt jedem dass dies die eigene Idee war und nicht die des Teams. Fazit: Je übertriebener (Das Höchste, das Beste, das Teuerste…) etwas ist, desto teurer kann es verkauft werden – und/oder desto wichtiger ist die Person, die darüber berichtet. 2.2. ÜberzeugungÜberzeugung ist dann der nächste Schritt: Ohne andere davon zu überzeugen, dass man überlegen ist, ist die ganze Mühe ja umsonst. Also muss man selbst davon überzeugt sein (oder zumindest so tun), dass das, was man tut, auch gut ist. Hier tummelt sich die neue Spezies, die „Gutmenschen“, die aber nicht nur gut sind, sondern darüber hinaus alle anderen auch gut machen wollen. Gut ist das neue Wort für Überlegenheit. Ich bin gut, also sind es die anderen nicht, jedenfalls nicht so gut wie ich. Bei der Frage, was denn Gut sei stoßen wir auf eine Kreativität, die nur wir Menschen so unglaublich quer auslegen können. Egal, was man tut, sei es noch so irre, es ist gut. Wenn Mitarbeiter vorsorglich entlassen werden, ist es gut, weil man die Arbeitsplätze der Verbliebenen rettet. Wenn Herrn M. mal deutlich vor der ganzen Truppe der Marsch geblasen wird, weil ein Kunde abgesprungen ist, ist es gut, man will ja keine Zeichen setzen. Jedes Verhalten, sei es noch so unsozial, kann von Überlegenheitskünstlern mit einem „gut“ gerechtfertigt werden. Der Ü-Effekt: die Anderen, die eine vernünftige Lösung suchen, stehen da wie Trottel. Und das ist auch so gewollt. 2.3. ÜberforderungMenschen, die dieser Masse an sich widersprechender, übertriebener aber guter Informationen ausgesetzt werden, sind überfordert. Was soll man noch glauben? Woran sich orientieren? Aber aus Gründen des Niemals-akzeptieren-wollens dass man überfordert ist muss man sich also zum einen „Gut“ oder zum anderen „Gut“ bekennen und diese Entscheidung dann auch vehement vertreten, sonst verliert man die Überlegenheit. Das muss unglaublich anstrengend sein. So ist der verbrannte Orientierungsboden ein Nährboden für Gruppierungen, die ihn fruchtbar für sich machen möchten. Diese Gruppierungen mögen sich aber meistens nicht, den eine ist logischerweise der anderen überlegen. So bildet sich aus dem Streben nach Überlegenheit Abneigung. Jetzt versucht die Unternehmensleitung eine Betriebsvereinbarung abzuschließen, die Abneigung und ihre Folgen verbietet. Oder sie sucht nach Agenturen, die ihnen ein neues, natürlich gutes Image verpassen. 2.4. ÜberschätzungEs ist doch ganz einfach: Wer denkt, immer und in jeder Situation den anderen überlegen zu, überschätzt sich maßlos – und unterschätzt andere. Kann auch mal schief gehen. Sicher, man kann ganz überlegen auf der rechten Spur der Autobahn alle überholen. Und doch wird es irgendwo einen Punkt geben, an dem man auf die Bremse treten muss, wenn man weiter aktiv dabei sein will. Für viele gilt das nicht. Vom Gaspedal gehen ist gleichzusetzen mit Der-Größte-Looser-der_Welt zu sein, „wer bremst, verliert“. Aber wer hat sich das bloß ausgedacht? Denn eigentlich sind wir doch gar nicht so. Tief in unserem Inneren wissen wir, dass wir nur gemeinsam etwas erreichen können. Unsere Vorfahren waren da irgendwie schlauer. Wird ein Acker bestellt, gab es Rollenverteilungen, jeder nahm seinen Job nach seinen Fähigkeiten war. Die Uroma pulte Erbsen und wurde nicht mehr zum Torfstechen geschickt, Wäre ja auch sinnbefreit. Heute wäre Uroma ein Looser, der sich vor harter Arbeit im Moor drückt. Die Frage also ist: Wer hat etwas von dieser Forderung nach permanenter Überschätzung? 2.5. ÜberarbeitungMenschen, die sich überlegen fühlen, beweisen die eigene Überlegenheit bis sie zusammenklappen. Auch nicht gerade beneidenswert, aber praktisch. Denn Ü – Unternehmen, die Firmen, die denken, dass ihnen niemand etwas kann, ziehen magisch Ü-Arbeitskräfte an (oder bilden sie für sich aus), die alles und mehr geben, weit über die eigenen Grenzen hinaus. Nicht selten opfern Dauer-Überlegene ihre Gesundheit. Work-Life-Balance ist für Ü- Unternehmen auch wirklich nicht das, was gewünscht ist und nur zähneknirschend angeboten wird um Bewerbern zu schmeicheln – denn in Wahrheit muss für die „Balance“ „Work“ abgegeben werden. Unangenehm. Auch Familien stören bei diesen Ü-Unternehmen nur. Denn da kommen dann die Frauen und, oh Schreck, jetzt auch die Männer! und wollen Zeit für ihre Kinder! Zeit, die für Produktivität gebraucht wird. Man stelle sich auch nur vor: lauter glückliche Menschen, die zur Arbeit gehen! Da kann nicht gut sein, denn der Wunsch nach Überlegenheit würde dann nicht mehr im Vordergrund stehen und das geht klar auf die Zahlen. Also werden Überlegenheitsstrategien belohnt oder wenigstens ignoriert: Die Konkurrenz zwischen der Werbe- und Vertriebsabteilung, die Streitereien zwischen Gewerkschaften und Arbeitgebern, die Konkurrenz zwischen Walter F. und Hermann A., wer Mitarbeiter des Jahres wird. 2.6. ÜberheblichkeitDer Stolz, der empfunden wird, wenn man Mitarbeiter des Jahres ist kann dann leicht zur Überheblichkeit und Arroganz führen. Die Umwelt antwortet mit Neid, Missgunst, Angriff , Rückzug oder Gegenüberlegenheit. Diese Reaktionen schaden unserem sozialen Zusammenleben, sie sind mehr als kindisches „Ich-bin-besser-als-Du“ oder schmollendes Beleidigtsein. Die Reaktionen summieren sich auf „der anderen Seite“, also denjenigen, die nicht Mitarbeiter des Jahres sind, und münden in das soziale Gefühl des Unerheblich-Seins, des Sowieso-nichts-ausrichten-könnens. „Die da oben sagen ja eh´wo´s langgeht“, „Was kann ich schon tun?“. Gut gemeinte Motivationsversuche („Oh, unser Team läuft nicht mehr so gut, wir gehen jetzt alle einmal Segeln“) gehen mit Sicherheit nach hinten los. 2.7. ÜbergewichtÜbergewicht meint hier nicht nur das reine physische Gewicht. Es hat etwas damit zu tun, dass man nicht mehr verzichten will. Die Überzeugung gilt: Wer heute noch verzichtet muss es tun, tut es aber bestimmt nicht freiwillig. Sonst verzichten nur Looser. Der Winner takes it all! Nehmt was ihr kriegen könnt, egal, ob er/sie es braucht oder nicht. Haben-Wollen ist das Gebot der Stunde, man lebt nur einmal, wer weiß, wann es wieder diese Chance gibt. Dieser Mix aus Übertriebenheit, Überlegenheit und Überforderung gehört mittlerweile zum Alltag, viele bemerken es gar nicht mehr. Die Frage, die ich mir jedoch stelle ist: Wer um Himmels Willen gibt uns das Recht dazu, so zu denken, wer erlaubt uns diese plumpe ständig fordernde Anspruchshaltung die doch in ihrer Erfüllung nur unrealistisch ist und, weitergedacht, nur zum Versagen aller führen kann? Das Versagen zeigt sich dabei jedoch nicht mehr beim Einzelnen. Das Kollektiv insgesamt versagt. Eine Familie bestehend aus Überlegenen kann es nicht geben. Ein Team von Überheblichen wird niemals produktiv. Ein Staat aus Überschätzten wird genauso versagen wie ein Unternehmen bestehend aus Übersättigten. 2.8. ÜbersättigungÜbersättigung liegt noch eine Stufe höher als Überlegenheit. Wenn tatsächlich alles läuft und es eine Ü-Person oder ein Ü-Unternehmen schafft, gefühlt permanent anderen überlegen zu sein, dann kommt die Übersättigung, der Ennui. Es ist alles da – und es ist langweilig. Was also soll noch kommen außer der Abstieg? Die Angst hiervor ist omnipresent. Doch, es hilft nichts. Irgendwann kommt er. Die Welt wird schnell vergessen. Morgen fragt keiner mehr nach dem großen Meisterkoch, nach dem berühmten Wirtschaftsboss, nach dem Youtube-Star, nach dem charismatischen Politiker, nach dem übermächtigen Unternehmen. Denn es gab diese Menschen und Unternehmen gar nicht, sie wurden nur dazu von anderen Ü´s auserkoren. Wenn ein Ü nicht wahrhaben will und gerade auf dem absteigenden Ast sitzt, greift dieser auch mal zu anderen Mitteln, die fern der Gesetze liegen, um irgendwie noch Aufmerksamkeit zu bekommen. Ist das Überlegenheits-Ennui erreicht, bekommt man sowieso das Gefühl, dass keiner einem mehr was kann. Meistens ist dann spätestens bei der polizeilichen Ermittlung und dem darauffolgenden Gerichtsverfahren und Insolvenzen endgültig Schluss. Alle gehen in den Abgrund, auch die, die sich an dem Überlegenheits-Roulette nicht beteiligt haben. Und das ist der Schaden, der massiv sozial beeinträchtig, zu Unmut, Unzufriedenheit, Unruhe führt. Menschen und Unternehmen sorgen also dafür, dass sie so satt werden, dass sie selbst die Überlegenheit nicht mehr genießen können und ziehen andere mit, ob sie wollen oder nicht. Was für ein Witz. 3. ÜberlebenDer Ursprung unseres Seins, nämlich das eigene Überleben und das Überleben anderer zu sichern ist aus dem Ruder geraten. Denn es ist alles doch selbstverständlich, dass man lebt gesund ist, mindestens zwei Autos und jeden Tag genug zum Essen hat, in den Urlaub fahren kann. Erst, wenn es eng wird, wenn Krankheit und Not oder sinkende Umsatzzahlen diesen vermeintlichen Frieden stören, schreckt man auf. Man wird nicht gerne daran erinnert, dass es auch einmal zu Ende geht und versucht dieses Szenario so lange wie möglich zu ignorieren. Überlegenheits-Fanatiker sind Meister der Ignoranz. Selbst wenn Ü´s irgendwann das Zeitliche segnen haben sie eine Erklärung die da lautet: Wer stirbt, ist, genau: ein Looser, hats nicht geschafft, hat den Stab abgegeben. Meistens jedoch ist nicht mehr ganz klar, an wen der Stab dann übergeben werden soll, denn es ist niemand mehr da. Förderung des Nachwuchses: Fehlanzeige, denn Förderung bedeutet ja Aufgabe des eigenen Überlegenheitsgefühls und ein sich-einfinden in die Ziele anderer. Man mag unken, dass der Nachwuchskräftemangel oder fehlende Unternehmensnachfolger auch irgendetwas mit einem zu ausgekosteten Überlegenheitsgehabe in der Vergangenheit zu tun hat. Die Vernachlässigung des “Sicherns des Überlebens anderer” und seine Folgen zeigt sich jetzt mit voller Macht. Dabei ist es egal ob die „Anderen“ die Gestalt von Mensch oder Tier, Pflanze, Umwelt, Mitarbeiter oder Kaffeemaschine annehmen. Vergisst man das Nachfüllen der Ressourcen, kommt eben nichts mehr. Weder Kaffee noch Glück, schon gar nicht beides. Eventuell nur ein neuer Überlegener. 4. ÜberraschungForscher[1],[2] entdecken Unglaubliches: Sie behaupten sogar, dass die Wirtschaft der Zukunft nur über Zusammenarbeit, durch Vereinbarungen zwischen sozialen, umweltpolitischen und wirtschaftlichen Interessen wachsen kann. Sie behauptet, dass Netzwerke und sogar hierarchielose, ineinander übergehende, sich überlappende und wieder lösenden Organisationen Lösungen für viele Probleme bieten. Das klingt in meinen Ohren sehr gut. Kein Chef mehr, der sich die Brusthaare krault. Kein Mobbing mehr, welches Frau M., die Looserin, in die Frührente getrieben hat. Gemeinsamkeit, Teamarbeit ist angesagt, Überlegene werden abgeschafft, Diese Forscher bleiben in der allgemeinen Medienwelt noch recht ungehört, (sie ist gerade mit neuen Kriegsszenarien beschäftigt), auch wenn es immer mehr Anhänger des “Social enterprising” gibt. In der Praxis sieht es damit noch sehr schmal aus – nur 19 Prozent der Wirtschaftsleader sagen, dass sie bereit dafür sind[3]. Und vermutlich wird dieses Bild der Zukunft an dem Streben nach Überlegenheit deutlich knabbern. Denn eine Umsetzung von Zusammenarbeit, Gegenseitigkeit würde ja bedeuten, dass wir dieses Streben größtenteils ablegen müssten. Denn es geht einfach darum gemeinsam etwas zu schaffen, was alle nach vorne bringt. Das würde bedeuten: Wir teilen Informationen, wir lassen andere an unserem Wissen teilhaben. Wir vertrauen anderen. Das würde bedeuten: Wir stecken zurück, wenn es dem Team und unseren Partnern/Kunden damit guttut. Das würde bedeuten: Überlegen, denken, handeln. Gleichzeitig bedeutet das aber auch: Neue Organisationsstrukturen, die Kooperationen ermöglichen, neue Gehaltsstrukturen, die Überlegenheitsschauspieler nicht bevorzugen. Ohne dem wird es nicht gehen. 5. ÜberlegtheitIn „Überlegenheit“ steckt ja eigentlich das Wörtchen „überlegen“ Aber falsch. Wenn wir tatsächlich dazu übergehen und nicht in jedes Horn stoßen auf dem „Gut“ steht, kommen wir ins Land der Überlegtheit. Überlegtheit wäre also etwas, was völlig neue Kompetenzen von uns fordern würde. Wir müssen sachlich die Situationen bewerten, Risiken abwägen und auf Grundlage unseres Wissens Entscheidungen treffen – und zwar gemeinsam mit anderen, die eventuell andere Meinungen, ein anderes Wissen, andere Kulturen, ein anders Geschlecht, eine andere Herkunft haben. Wir müssen Toleranz entwickeln und unsere schön gezüchteten und gepflegten Vorurteile an die Wand hängen. Das wiederum fordert die Fähigkeit des Lernens und des Willens, über dieses Lernen auch das Überleben anderer Menschen zu sichern, die heute und in Zukunft unsere Welt bevölkern – unabhängig davon, ob wir uns davon persönlich Vorteile versprechen. Lernen heißt auch: Aufnahme von Informationen, die wir in Wissen für eine Gemeinschaft, in ein Team, in ein Netzwerk umwandeln. Davon heute zu sprechen, erscheint mir fast utopisch angesichts der zunehmenden Zahl der Überlegenen und trotzdem oder gerade deswegen extrem notwendig. Aus meiner Sicht müssen alle, die an einem Zusammenleben und –arbeiten interessiert sind, neue Kompetenzen erarbeiten oder reaktivieren und alte ablegen. Neue Organisationsstrukturen müssen Zusammenarbeit ermöglichen und belohnen, alles Prozesse und Instrumente, die Überlegenheit unterstützen müssen geprüft und zugunsten der Zusammenarbeit geändert werden. Unsere Wirtschaft und alle, die mit ihr verbunden sind, brauchen das. Dringend. 6. Psychologie der ÜberlegenheitDie Überlegenheitsillusion wird auch Lake Wobegon-Effekt genannt und zählt zu den selbstwert-dienlichen Verzerrungen im Rahmen der Selbstwirksamkeits-erwartung…“[1] . Wen es tröstet: Lake Wobegon ist nur eine kleine Fantasiestadt im mittleren Westen der USA, ausgedacht von Garrison Keilor und der Name bedeutet in der Sprache der Ojibwa, einem nord-amerikanischen Indianervolk „ Der Ort an dem wir auf dich den ganzen Tag im Regen warten“. [2] Also, den Ort gibt es gar nicht und wer wartet schon den ganzen Tag im Regen auf jemanden, der nicht kommt? Ähnlich doch nicht gleich verhält es sich mit dem Dunning-Kruger-Effekt. David Dunning und Justin Kruger von der Cornell University machten ein Experiment[3]: Man hatte Studenten zu Tests eingeladen, wobei ausgerechnet jene Teilnehmer, die die schlechtesten Ergebnisse erzielten, der Ansicht waren, dass ihre Leistungen weit über dem Durchschnitt liegen. Diese systematische Selbstüberschätzung ließ sich auch nicht dadurch korrigieren, dass man dieser Gruppe die Testbögen zeigte, auf denen ihre Fehler dokumentiert waren.[4] Aus neurowissen-schaftlicher Sicht spielt angeblich der Neurotransmitter Dopamin im Hirnbereich des Striatums[5] eine entscheidende Rolle und insbesondere im Zusammenspiel mit dem vorderen Stirnlappen, der u.a. situationsgerechte Handlungen ermöglicht. [6] Das Striatum ist für die komplexe Verschaltung einer gezielten Bewegung zuständig. Im seinem vorderen Bereich liegt zudem eine wichtige Struktur des Belohnungssystems. Die Höhe der Konzentration des Dopamins in beiden Gehirnarealen scheint für die Überlegenheitsillusion verantwortlich zu sein. [7] Man könnte vermuten: Je höher das Dopamin in diese Bereiche anregt. desto belohnender wird das Überlegenheitsgefühl empfunden – und jede Situation, die diese Belohnung verspricht wird durch diesen Effekt nicht nur genutzt, sondern auch gesucht, ungeachtet der Folgen. Wir tun halt viel für unser Belohnungssystem, auch wenn es, realistisch betrachtet, völliger Blödsinn ist. Silke Wöhrmann, Dipl.-Kfm., (54) ist Personalentwicklerin und Hochschuldozentin im Bereich Personalpsychologie und –management. Sie leitet Change-Projekte im Personalmanagement und arbeitet als Autorin und Coach. Als Gründerin und Geschäftsinhaberin der APT Human Management setzt sie sich zum Ziel, neue Konzepte, Strategien und Ideen im Human Resources Management zu entwickeln und zu etablieren. Kontakt: info[et]apt-woehrmann.de – http://www.apt-human-management.de. [1] Powercrowd: Enterprise Social Networking in Professional Service Work: A Case Study of Yammer at Deloitte Australia Kai Riemer & , Paul Scifleet , Ruwen Reddig & The University of Sydney, Charles Sturt University, The University of Münster BIS WP2012-02 [2] Laloux, F.: Reinventing organizations : a guide to creating organizations inspired by the next stage in human consciousness, Brussels : Nelson Parker, 2014.-380p. [3] https://e3zine.com/2019/05/25/business-leaders-social-enterprise/ |