Warum hungern Personaler lieber nach Fachpersonal als dass sie auf diejenigen zugehen, die sich wieder von der Selbstständigkeit in die Angestellten-Welt zurück trauen? Warum liegen zwischen Firmen, Freiberuflern oder Start-up-Gründern diese unsichtbaren Gräben, wenn es um Recruiting geht?
Das Verhältnis ist doch recht widersprüchlich: feste Angestellte holen sich bei Selbständigen Rat, sind dann aber auch wieder ganz froh, wenn Berater, Trainer, Consultants und wie sie alle heißen wieder weg sind und man wieder seine Ruhe hat. Auf der anderen Seite wären sie aber gar nicht angestellt, wenn nicht ein Selbständiger ihre Firma gegründet hätte…
In meiner Zeit als Selbständige (der eine lange Zeit im Angestelltenverhältnis vorausging) habe ich viele Einschätzungen von Personalentscheidern gehört, sie meinen zu wissen, was Selbständige sind und tun. Und bin ziemlich nah dran zu glauben, dass ein paar Vorurteile geändert werden müssten. Hier ein paar Beispiele und erste Versuche der Richtigstellung:
„Wer selbständig ist, kann sich im Angestelltenverhältnis nicht zu Recht finden.“ (Übersetzt: Wer sich selbständig macht, muss einen an der Waffel haben.)
Motive zur Selbständigkeit sind vielfältig. Ja, vielleicht hat es einmal mit einem Angestelltenverhältnis nicht geklappt und jemand hat sich zur Selbständigkeit entschieden. Nur – diese Entscheidung wird tendenziell als „es blieb ihm nichts anderes übrig“ gesehen, nicht als Mut, Dinge anzugehen, als Bereitschaft, Risiken einzugehen. Oder eine Frau wollte doch tatsächlich intelligente herausfordernde Arbeit trotz Kinder weiterführen und sich nicht nach der Babypause auf irgendeinen Stuhl, der gerade noch vom Arbeitsgesetz von der Gleichwertigkeit her akzeptiert wird, setzen lassen. Oder, auch wirklich ein sehr häufiger Grund: jemand hat eine Idee und möchte sie verwirklichen und alles dran setzen: sein Geld, seine Zeit, seinen Enthusiasmus, seine Leidenschaft, um diese Idee zu realisieren.
„Wer selbständig ist, kann sich nicht integrieren“ (Übersetzt: in Unternehmen gibt es Regeln und wir fürchten, dass sich Selbständige nicht daran halten.“)
Falsch ist: Selbständige können machen, was sie wollen, sie sind ja nur für sich selbst verantwortlich. Richtig ist: Wer selbständig ist, muss sich integrieren. Ganz einfach, weil er sich täglich auf neue Kunden, deren Bedürfnisse, deren Wünsche und Kulturen einstellen muss. Selbständige stehen morgens auf, arbeiten und gehen abends ins Bett, wie andere Menschen auch. Sie befolgen Regeln – nicht nur in einer Firma, sondern in vielen verschiedenen, und das häufig zur gleichen Zeit.
Der beste Satz, den ich gehört hatte: Nach einem Meeting meinte man dann zu mir: „Oohh, das Wetter ist so schön, Sie können ja jetzt an die Alster gehen“. Übersetzt: Wer selbständig ist, schläft bis 12 Uhr.
Falsch: Das Wort „Selbstständigkeit“ beinhaltet nicht nur in mäßig witzigen Kommentaren tatsächlich „Selbst“ und „ständig“. Ich persönlich kenne niemanden, der unter 60 Stunden in der Woche arbeitet. Samstage sind Arbeitstage. Urlaub wird nicht bezahlt – daher wird schnell darauf verzichtet, wenn ein Kunde in der geplanten Urlaubszeit einen Auftrag bekommt. Und an der Alster bei Sonnenschein finden sich eher weniger Selbständige, es sei denn, sie brauchen endlich wieder Vitamin D oder treffen sich mit Geschäftskunden.
Wer selbständig ist, ist zu „freiheitsliebend“ und bringt das System durcheinander.
Falsch: Selbständige sind vogelfrei in dem was sie tun. Richtig: Selbständigkeit bedeutet, die komplette Verantwortung zu übernehmen, für sich, sein Team, seine Zeit, die Finanzen. Die Mär´von der völligen Unabhängigkeit ist und bleibt ein Vorurteil, welches sich (leider) nur schwer aus den Köpfen heraus bekommen lässt.
VUCA und Kompetenzen der Zukunft
Diese Haltungen sind in VUCA[1]-Zeiten völlig unverständlich. Denn laut Studien suchen und brauchen Unternehmen Menschen, die verschiedenste Kompetenzen der Komplexitätsbewältigung unter einen Hut bekommen: volatility (=Fähigkeit zum Umgang mit Unbeständigkeit), uncertainty (=Fähigkeit, sich unter schnell wechselnden Bedingungen und Unsicherheiten zu bewegen) complexitiy (=Fähigkeit, komplexe Zusammenhänge zu durchschauen und zu strukturieren) und ambiguity (=Fähigkeit, mit unbekannten Variablen umzugehen).
VUCA heißt, diese Kompetenzen in einer Welt einzusetzen, die Ergebnisse nicht mehr sicher vorhersagen lässt und Entscheidungen unter einem unsicheren Informations- und Kenntnisstand getroffen werden müssen. Und darin sind Selbständige recht gut. Die Situation „Wenig Information – geringe Vorhersagekraft der Ergebnisse“ ist Ihnen nur allzu bekannt. Und nach VUCA erfordert Ambiguität z.B. Experimentierfreude, Mut zu Hypothesen und Mut dazu, diese zu testen. Ebenso sind Lernwille, Reflexion des Erreichten, ständige Anpassung an das Erlernte ein „Must“ für alle, die selbständig in einem globalen wettbewerbsintensiven Markt bestehen müssen.
Big Five und Selbständige oder: Wer sind sie?
Nun, man kann sagen, dass sei alles ja klar, wenn eine schreibt, die selbständig ist. Also holen wir doch einmal Rat und Erklärung aus wissenschaftlicher Sicht.
Das durchaus anerkannte „Big Five Persönlichkeitsmodell“[2] mit einer Reliabilität und Validität (gemessen anhand Cronbachs Alpha) überzeugt mit Werten zwischen .76 bis .90 sowie einer bestätigten faktoriellen Struktur. Es misst bekanntermaßen die Persönlichkeitsmerkmale
- N = Neurotizismus
- E=Extraversion
- C= Gewissenhaftigkeit
- O=Offenheit
- A= Verträglichkeit / Beliebtheit sowie
- Grundmotive (Bedürfnis nach Anerkennung und Leistung, nach Macht und Einfluss, nach Sicherheit und Ruhe).
Diese „Big Five“ stellen eine Kombination von Persönlichkeitsmerkmalen heraus, die Personaler doch so sehr lieben (bis auf den Neurotizismus natürlich). Aber eben nur bei Menschen im Angestelltenverhältnis?
Interpretiert man die Veröffentlichung bedeutet das für Selbständige: Besonders auffällige niedrige Werte beim Neurotizismus. Im mittleren Bereich befinden sich Gewissenhaftigkeit, Extrovertiertheit und Verträglichkeit. Die Offenheit (Toleranz, Neugierde, an vielen Dingen interessiert) scheint eine Stärke der Selbständigen zu sein: sie ist überdurchschnittlich hoch ausgeprägt. Sie zeichnen sich durch ein stark ausgeprägtes Macht- und Leistungsmotiv, dagegen ein sehr geringes Sicherheitsbedürfnis aus. Angestellte haben dagegen ein deutlich niedrigeres Macht- oder Leistungsmotiv, Beamte zeigen ein hohes Bedürfnis nach Sicherheit.
Was unterscheidet Selbständige von Angestellten?
Aber irgendetwas muss es doch sein, was Selbständige von Angestellten unterscheidet. Eine Antwort auf diese Frage liefert vielleicht der MBTI und seine Forschungsergebnisse[3]. Eine Studie mit immerhin 25.759 Befragten hat z.B. ergeben:
ENTP´s sind die „wahren“ Selbstständigen, ISFP´s die besten Angestellten
Der MBTI (Meyer Briggs Typen Indikator) beschreibt 8 Persönlichkeitsmerkmale.
- Die Motivation zur Sinneserfahrung: I = Introvertiert versus E = Extrovertiert
- Die Verarbeitung der Sinneseindrücke: N = Intuitiv versus S = Sensing (Kognitiv erfassend)
- Die Art und Weise, wie Entscheidungen getroffen werden: F = Fühlend versus T = Thinking (Denkend)
- Den Lebensstil / Umgang mit Eindrücken aus der Umwelt: J = Judjing (Urteilend / Tendenz, die Eindrücke der Umwelt schnell zu strukturieren) versus P = Perceiving (Wahrnehmend / Tendenz, noch länger weitere Eindrücke aufzunehmen)
ENTPS sind nach dem MBTI Menschen, die ihre Energie aus der Interaktion mit anderen Menschen oder Ereignissen aus ihrer Umwelt schöpfen. Sie tendieren zu abstraktem Denken und fokussieren Ihre Aufmerksamkeit eher auf den Gesamtzusammenhang, denken zukunftsorientiert. Denken wird dem „Fühlen“ vorgezogen: Klare objektive Kriterien werden von den ENTPS bevorzugt. Wenn sie Entscheidungen treffen, basieren diese eher auf Logik und weniger auf soziale Betrachtungsweisen. ENTPS halten sich mit schnellen Urteilen zurück und treffen wichtige Entscheidungen wenn sie sich auch andere Meinungen hinzugeholt haben. Ihr Motto:
How we change what others think, feel, believe and do[4]
Nach dem Keirsey Temperament Sorter lieben ENTP die extrovertierte Intuition: Sie können besonders schnell komplexe Beziehungen zwischen Menschen, Ideen, Dingen sehen. Diese Beziehungen werden analysiert und über ihre zweite Stärke, dem introvertierten Denken, in Ergebnisse und Lösungen transferiert. Das Streben, zu verstehen, wie die Dinge funktionieren, helfen bei der intelligenten Lösung von Herausforderungen.
ENTPS werden beschrieben als „clever“ und verbal schnell, enthusiastisch, vorangehend, innovativ, flexibel, loyal und verantwortungsvoll. Ihre Motivation liegt darin begründet die Welt, in der sie leben zu verstehen und diese zu verbessern. Sie treffen oft präzise mit ihrer Einschätzung einer Situation. ENTPS sind hochgradig flexibel und lieben innovative Lösungen, aber weniger die detailgenaue Befolgung endloser Pläne. Kommentare wie „Es geht nicht“ fordern die ENTPS eher heraus um das Gegenteil zu beweisen. ENTPS nehmen gerne die Rolle des „Inventors“, also Erfinders ein: pragmatisch, informativ, ausdrucksstark. Besonders hassen Sie es Dinge zu tun, nur, weil sie schon immer so getan wurden. Sie lieben neue Projekte und besitzen einen unternehmerischen Geist.[5]
ISFP sind die besten Angestellten
Ist es das, was sie von Angestellten unterscheidet? ISFP´s sind laut MBTI die besten Angestellten und unterscheiden sich in Ihrem Charakter stark von den ENTP´s. Sie werden charakterisiert als eher introvertiert. Sie sind tendenziell ruhiger und reservierter. Sie mögen die Interaktion mit wenigen, aber guten Freunden. Sie mögen es lieber konkret – abstrakte Denkweisen werden häufig „zu weit weg“ empfunden. Ihr Fokus liegt auf Details, die aktuelle Realität liegt ihnen näher als unklare Zukunftsszenarien. Wenn sie Entscheidungen treffen, dann geben sie sozialen Aspekten einen hohen Aufmerksamkeitswert.
Der Keirsey Temperament Sorter bezeichnet ihre Persönlichkeitsrolle als „Komponist“: Komponisten sind „taktische Entertainer“, konkret in ihren Aussagen und zweckgebunden in ihren Handlungen. In sozialen Situationen sind sie aufmerksam und informativ. Ihre Zeit ist das „Hier und jetzt“, ihre Sensitivität ist stark an Umwelteinflüsse gebunden. Sie verlassen sich auf ihre „5 Sinne“ und sind in der Lage, feinste Abweichungen in Ihrer Umgebung wahrzunehmen. Ihre Sensitivität zeig ihnen schnell „Was/wer passt / Was/wer nicht“ und gibt ihnen das Einfühlungsvermögen und die Verständnis gegenüber menschlichen Sorgen und Nöten.
Walt Disney und Bob Dylan treffen sich
Nun, stellen wir uns vor, die berühmten Vertreter der ENTP´s (Walt Disney) und ISFP´s (Bob Dylan) treffen sich. Was hätten Sie sich zu sagen? Was würde aus ihrem Gespräch entstehen? Mit hoher Wahrscheinlichkeit ein erfolgreicher Film mit fantastischer Musik. Aber erst, wenn sie in der Lage sind, einander zu verstehen. Ansonsten wäre die Wahrscheinlichkeit doch eher, dass sie sich nach dem ersten gemeinsamen Gespräch mit leicht verwundertem Gesichtsausdruck verabschieden und sich weiter um ihre Angelegenheiten kümmern.
Herausforderungen an Personalentscheider in der VUCA-Welt
Genau diese Herausforderung gilt es für alle Personalentscheider zu meistern: Einen gesunden Team-Mix aus Persönlichkeiten herzustellen, um sich so erfolgreich in der VUCA-Welt zurecht zu finden. Dafür zu sorgen, dass sich die Persönlichkeiten untereinander verstehen und ergänzen – so verschieden sie auch sein mögen. Der Verzicht auf ENTP`S, aus Angst vor Neuerungen ist sicherlich genauso falsch wie der Versuch, aus ISFP´s mit „ChakAAA!“-Seminaren Innovatoren zu machen.
Was ist zu tun?
Natürlich. Alles, was bisher beschrieben wurde, sind Beispiele, Hypothesen. beschrieben ist. Es gibt genügend extrovertierte, machtstrebende Angestellte und introvertierte Selbständige. Trotzdem zeigen die Studien einen gemeinsamen Nenner: die Variablen „Konformität“ und „Non-Konformität“ ziehen unterschiedliche Persönlichkeitsstrukturen besonders an und lassen aus Ihnen „Selbständige“ oder „Angestellte“ werden .
Alte Auswahlkriterien überprüfen
Eine weitere Herausforderung ist die Überprüfung der Auswahl- und Beurteilungskriterien. Werden diese „konserviert“, behindern sie die Chance auf innovative und nonkonforme Verhaltensweisen. So hält sich z.B. das Kriterium „Durchsetzungsvermögen“ seit den 80-er Jahren hartnäckig in Assessment-Centern und führt zu Teams, die aus durchsetzungsstarken Persönlichkeiten bestehen, die vor lauter Durchsetzung nicht zum Ergebnis kommen. Das Kriterium „Umgang mit Komplexität“ wäre inzwischen eher angebracht. Genau diese Fähigkeit wird nach VUCA diejenige sein, die eine erfolgreiche von einer nicht erfolgreichen Firma unterscheidet.
Organisationen der Wirtschaft wählen bevorzugt aufstiegsorientierte und identifikationsbereiten (Führungs-) Nachwuchs aus (Nerdinger/Rosenstiel[8]). Diese Personen sind zahlreich im Bereich der „Neuen Selbständigen“ zu finden. Die „Neuen Selbständigen“ entsprechen weder dem klassischen Arbeitnehmerverhältnis noch der traditionellen Selbständigkeit. Es gibt sie in allen Wirtschaftsbereichen, doch geraden in den wissensintensiven Branchen wird ihnen oft eine Vorreiterrolle für die zukünftige Arbeitswelt zugesprochen. [7] Genau diese Personen aber „selektieren sich selbst“ und bewerben sich nicht[3]. Hier muss das Personalmarketing etwas tun: diese Zielgruppe identifizieren, auf sie zugehen, informieren. Neue Zeitmodelle anbieten. Teamarbeit auch virtuell angehen. Entscheidungsfreiräume lassen. Und statt Konformitätsdruck Zukunftsproduktivität in Aussicht stellen.
Was passiert, wenn man Selbständige anstellt?
Das Denken „ Die /der passt nicht ins Team“ oder „Die /der bringt Unruhe ins Team“ muss dem Denken „Wir holen uns neue Impulse ins Team“ weichen. Denn was kann schon passieren? OK, vielleicht hat der Selbständige aufgrund seiner Erfahrung aus seiner Tätigkeit in verschiedensten Branchen mit unterschiedlichsten Funktionen und Persönlichkeiten einen anderen Blick und auch einmal eine andere Meinung. Vielleicht braucht er nicht so viel Betüdelung, weil er es gewohnt ist, selbst zu entscheiden, Dinge voran zu bringen und dafür nicht immer gleich Lob zu wollen. Vielleicht, im schlimmsten Fall, denkt er nicht nur fachbezogen, sondern ganzheitlich und mischt sich in Themen ein, die andere für sich beanspruchen. Gut. Na und? Ist es nicht das, was wir brauchen?
[1] https://hbr.org/2014/01/what-vuca-really-means-for-you
[2] „Satow, L. (2012). Big-Five-Persönlichkeitstest (B5T): Test- und Skalendokumentation. Online im Internet: URL: http://www.drsatow.de.
[3] http://www.truity.com/sites/default/files/PersonalityType-CareerAchievementStudy.pdf
[4] D. Straker: Changing Minds, Syke Publishing, 2008, http://changingminds.org/explanations/preferences/judging_perceiving.htm
[5] Studie mit 25.759 Befragten, PERSONALITY TYPE & CAREER ACHIEVEMENT Does Your Type Predict How Far You’ll Climb? A survey of career outcomes among Briggs Myers’ 16 personality types Molly Owens, MA Truity Psychometrics LLC San Francisco, CA February 2015, http://www.truity.com/sites/default/files/PersonalityType-CareerAchievementStudy.pdf
[6] A. Vanselow, Graue Reihe des Instituts Arbeit und Technik 2003-06,Neue Selbständige in der Informationsgesellschaft, Gelsenkirchen 2003
[7] VONDERACH, G.: Die „neuen Selbständigen”. 10 Thesen zur Soziologie eines unvermuteten Phänomens. Mitteilungen aus der Arbeitsmarkt- und Berufsforschung 1980, 13, 153—169
[8] von Rosenstiel, L., Nerdinger, F. W., Spieß, E. & Stengel, M. (1989). Führungsnachwuchs im Unternehmen. Wertkonflikte zwischen Individuum und Organisation. München: Beck.